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Klettern im Rhein-Main-Gebiet

Ein Rückblick auf 100 Jahre Klettergeschichte

Wann das alles mal angefangen hat mit dem Klettern im Rhein-Main-Gebiet, wer weiß das heute noch genau zu sagen. Sicher ist, daß einzelne Felsen des Taunus und des Hunsrück bereits um die Jahrhundertwende zwar nicht sehr häufig aber doch regelmäßig besucht wurden, um an ihnen zu klettern. Die Keimzellen dieser Aktivitäten waren die bereits seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestehenden Alpenvereinssektionen in den größeren Städten wie Frankfurt, Wiesbaden und Kassel.

Zu den ältesten Klettergärten sind neben zahlreichen kleineren Felsen des Taunus vor allem die Eschbacher Klippen, der Rotenfels im Nahetal sowie die Felsen des Morgenbachtals zu zählen. Das Morgenbachtal bildete schließlich für viele Jahrzehnte das Zentrum des Bergsports innerhalb des Rhein-Main-Gebietes. Die meisten Klassiker wie Klüverwand, Soomriß (beide vielen 1995 einem Felssturz zum Opfer), Hakenrisse und Frankfurter Normale wurden schon vor dem Zweiten Weltkrieg erstbegangen. Mit einer verbesserten Ausrüstung wurden bald auch schwerere Ziele angegangen. So wurden sehr wahrscheinlich auch die Neue- und die Alte Frankfurter Direkte an der Frankfurter Wand schon vor dem Krieg gemeistert.

Neben dem Morgenbachtal konnte der Rotenfels bei Bad Münster am Stein im Nahetal schon in den dreißiger Jahren als traditionelles Kletterziel gelten. Dieses gewaltige aber überaus brüchige Porphyrmassiv kam dem Ideal eines Abbilds der alpinen Felsenwelt am nächsten und übte damit bereits um die Jahrhundertwende auf die Bergfreunde eine besondere Anziehungskraft aus. Zunächst wurden die großen Rinnen und Kamine erstiegen, die heute z. T. als Abstiegswege genutzt werden. Verbürgt sind diese frühen Kletteraktivitäten durch einen traurigen Anlaß, denn bereits 1903 ereignete sich hier der erste tödliche Unfall. Bereits um die Jahrhunderwende wurden schon "richtige" Kletterwege wie der Goldmannkamin, der Saarbrücker Kamin und der auch heute noch beliebte Glockengrat erstbegangen, wahrscheinlich auch schon die Alte Mitelwand und der Wiesbadener Weg.

Als ein weiteres Extremkletterziel der Vorkriegszeit etablierte sich ab den frühen dreißiger Jahren auch die Lorsbacher Wand im Taunus. Die Lorsbacher Wand stellt einen der seltenen Glücksfälle dar, in denen heute noch ein  Wandbuch aus jener Zeit existiert! Es befand sich auf der kleinen Kanzel sechs Meter über dem "Frühstücksplatz", von der der Alte Weg nach links in den steilen Wandteil zieht, zu der kleinen Nische in der heute das Wandbuch zu finden ist. Wegen der spärlichen Sicherungsmöglichkeiten in dem kompakten Schiefergestein beschränkte man sich ansonsten aber auf den weniger abweisenden rechten Wandteil.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges setzte in den meisten Gebieten die Blütezeit der klettersportlichen Entwicklung ein. Nach wie vor galt das Hauptinteresse dem Morgenbachtal, wo sich allmählich eine richtige kleine Kletterszene entwickelte. Schon damals kamen die Kletterer aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet und auch aus Koblenz und Köln an die Quazitfelsen oberhalb der Burg Reichenstein und viele machten sich regelmäßig jedes schöne Wochenende mit der Bahn auf den Weg nach Trechtingshausen.

Die Bahn war auch nicht ganz unschuldig daran, daß ein Reichsbahner namens Jordan zusammen mit Frau und Söhnen von der mecklenburgischen Ostseeküste an den damals noch bedeutenden Rangierbahnhof in Bingerbrück versetzt wurde. Wer hätte gedacht, daß wenige Jahre später die beiden Zwillingsbrüder Siegfried und Wolfgang ("Wölfi") Jordan zu den treibenden Kräften der klettersportlichen Entwicklung im Morgenbachtal wurden. Mit ihnen trugen auch Helmut Bopp, Hans-Georg Aust, Paul Ratgeber und der nach Frankfurt ausgewanderte Lindauer Helmut Brutscher dazu bei die Kletterei im Morgenbachtal auf einen zeitgemäßen Entwicklungsstand zu heben. Die Rheinländer und Hessen wurden dabei eine Zeitlang tatkräftig unterstützt durch vier junge Regensburger Kletterer, die die Fachschule für Orthopädieschuster in Bad Homburg besuchten. Nach ihnen ist die Regensburger Wand benannt.

Ein Höhepunkt dieser Erschließungsperiode war sicher die erste vollständige Begehung des Sumpfbibers (VI, a2 oder 7) an der Frankfurter Wand, durch die Gebrüder Jordan 1958, nachdem der obere Teil bereits zwei Jahre zuvor durch Helmut Brutscher erstbegangen worden war. Legendär waren schließlich die Kletterkünste von Siegfried und Wolfgang Jordan, von denen überliefert ist, daß sie - einmal in der richtigen Stimmung - den Sumpfbiber seil- und magnesiafrei hinaufspaziert sind, daß sich andere Kletterer nur verblüfft die Augen reiben konnten. Ein Freesolo im siebten Grad, daß auch im Zeitalter des elften Grades nicht unbedingt alltäglich geworden ist. Wenn man nicht gerade Jordan hieß, zählte aber auch schon eine freie Begehung der Vier-Männer-Wand an der Regensburger Wand - "Einer klettert, drei ziehen!" - als eine respektable Leistung. Den Längenzug zum Querriß, der hakentechnisch nicht zu überlisten ist, rechnet man auch heute noch zum oberen sechsten Schwierigkeitsgrad. Auch diese Route wurde von den Jordan-Brüdern im Alleingang geklettert.

Auf das Konto von Siegfried und Wolfgang gehen außerdem einige der lohnendsten Morgenbachtal-Routen, wie z. B. der Weg der Barmherzigkeit am Schinderhannes oder die Schreckkante an der Lutzplatte. Der Nikolausfelsen oberhalb des Bingerbrücker Bahnhofs wurde bald zu ihrem privaten Trainigsfelsen, an dem sie nach und nach sämtliche Routen weitgehend frei und zum Teil mit einer mehr als abenteuerlichen Absicherung erstbegehen konnten. Bald zählten die beiden Zwillingsbrüder aus Bingen zu den besten Kletterern ihrer Generation in Deutschland, auch wenn das niemals an die große alpine Öffentlichkeit drang. Ihr für die damalige Zeit schier unvorstellbares Kletterkönnen manifestierte sich schließlich in der vermutlich ersten Begehung der Direttissima an der große Zinne an einem Tag, ohne Biwak.

Lorsbach Doch auch an den anderen Felsen stand die Zeit nicht still. In Lorsbach wurden schon 1949 mit der Edi-Route und dem Großen Quergang von Eduard Reinhard und Georg Schall zwei der schönsten und damals schwierigsten Wege erstbegangen. Später reihten sich noch Pit Schubert, Jürgen Nold und Jürgen Winkler in die Liste der Lorsbach-Jünger ein. Bis in die Mitte der fünfziger Jahre waren dann bereits fast alle "klasischen" Linien erklettert, u. a. Spitze- und Stumpfe Verschneidung, Pfeilerausstieg, Verschnißnes Eck und Via Ingrid, und nachdem sich Bernd Müller die Bohrhakenleiter der Camilotto durch den glattesten Bereich des linken Wandteils nicht verkneifen konnte, schien die Lorsbacher Wand endgültig erschlossen zu sein.

1962 begann Jürgen Kämpfer mit der systematischen Erschließung des Konradsfelsens, der zuvor vom Wiesbadener Marmorhändler Karl Karn bei einem Besuch in den Villmarer Marmorsteinbrüchen entdeckt worden war. Dabei entstanden neben einigen leichteren Wegen im rechten Teil mit der Lahnverschneidung und dem Wasserweg zwei herausragende und spektakuläre Routen, die im Rhein-Main-Gebiet vor allem aufgrund ihrer Lage ihresgleichen suchen.

Auch der Rotenfels wurde nach dem Krieg als Kletterziel quasi wiederentdeckt. Hier übte die noch unbezwunge 180m hohe Basteiwand ein große Anziehungskraft aus. Todesmutige Kletterer suchten hier wahrscheinlich schon vor dem Krieg ihr Glück. Später fanden dann in den fünfziger und sechziger Jahren einige ernstzunehmende Versuche in dem extremen Bruchgelände statt, die aber sämtlich scheiterten. So ist die höchste natürliche Felswand in Deutschland außerhalb der Alpen noch immer unbezwungen.

An den weniger abweisenden Bereichen des Rotenfelses fanden sich dagegen dankbarere Erstbegehungsziele. Vor allem in der Mittelwand warteten einige lohnende Linien auf mutige Erschließer. Ziel mußte es sein die klassische Alte Mittelwand, die vor allen steilen Wandteilen auskneift, zu begradigen. So entstanden der Hoch-Empor-Weg und der Kreuznacher Weg. Doch erst Hans Loser aus Bad Kreuznach - über viele Jahrzehnte und auch heute noch quasi der "Hausmeister" des Rotenfelses - löste sich endgültig von der traditionellen Linie der Alten Mittelwand und setzte mit seiner eindrucksvollen Wölfi-Route dem unvergessenen Wolfgang Jordan ein würdiges Denkmal.

In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren kamen schließlich noch weitere anspruchsvolle Erstbegehungen an der Mittelwand hinzu. Im rechten Teil knackte Rüdiger Braumann aus Frankfurt die Frankfurter Verschneidung (Braumann-Route) und schließlich gelang Rainer Braun zusammen mit Walter Wick im Januar 1974 mit der Begehung der Direkten Mittelwand das "letzte" große Problem an der Mittelwand. Berühmt-berüchtigt wurde der Rotenfels jedoch durch einige haarsträubende Bruchklettereien und leider auch durch gelegentliche schwere Unfälle. Zu den übelsten Bruchwegen zählen nach wie vor der Südgrat des Spitzen Turmes, erstbegangen von Helmut Bopp, der Südgrat des Stumpfen Turmes sowie die legendäre Sputnikkante von "Sputnik" Jürgen Hoffmann.

Durch den Bergtod von Helmut Bopp in der Carlessoführe am Torre Trieste im Jahr 1963 und den tödlichen Motoradunfall von Wolfgang Jordan verloren der Rotenfels und das Morgenbachtal zwei seiner bedeutendsten Erschließer. Die nachrückende Generation, den Blick durch die Hakendirettissima-Orientierung getrübt, vermochte nicht die von ihren Vorgängern begonnene Entwicklung in der Freikletterei weiterzuführen.

So stagnierte die Leistungsentwicklung im Freiklettern im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre, und erst mit dem Aufkommen der Sportkletterbewegung Ende der siebziger Jahre setzte ein neuer Aktivitätsschub ein. Bewaffnet mit Reibungskletterschuhen und Chalkbag ging eine neue Generation junger Kletterer daran, auch an den Felsen des Rhein-Main-Gebietes die alten klassischen Wege von ihren hakentechnischen Fesseln zu befreien. Motor dieser Entwicklung war indirekt auch Reinhard Karl, den es damals in die Frankfurter Hausbesetzerszene verschlagen hatte, um als Fotograf für den KBW das Eingreifen der "imperialistischen" Staatsgewalt zu dokumentieren. Ganz nebenbei aber umso nachhaltiger infizierte er die einheimischen Kletterer mit dem aus Kalifornien eingeschleppten Freikletterbazillus. Plötzlich tauchten viele junge Talente auf, die sich an den umliegenden Felsen daran machten, die Idee vom freien Klettern in die Tat umzusetzen. Zu ihnen zählten unter anderen Matthias Klopp, Oliver Waag, Christian Dirjak und Uwe Tisch.

Im Zentrum des Interesses stand einige Jahre lang die Lorsbacher Wand. Die steilen Leistenklettereien lieferten das optimale Gelände, um schnell in die Schwierigkeitsregionen jenseits des sechsten Grades vorzudringen. Nachdem die klassischen Nachkriegsrouten allesamt gepunktet waren, gelang Oliver Waag kurz vor seinem tragischen Tod in der Civetta-Nordwestwand zusammen mit Christian Dirjak die nur mit Klemmkeilen "gesicherte" Erstbegehung des Rumpelstilchens ganz im Stile des amerikanischen Vorbilds. Auch der Direktausstieg zum Verschnißnen Eck dokumentiert mit seinem bemerkenswerten Runout an der Schlüsselstelle den Anspruch des Kletterns "by fair means". Damit waren aber die Möglichkeiten für stilreines Clean Climbing in dem kompakten Schiefergestein der Lorsbacher Wand erschöpft. Uwe Tisch hatte dies als erster erkannt und schuf 1981 mit seiner bohrhakengesicherten Kreation der Rocky-Horror-Lorsbach-Show die wohl wichtigste Erstbegehung dieser Zeit. Für die darauffolgenden Jahre wurde der linke Wandteil der Lorsbacher Wand zum Treffpunkt aller ambitionierten Freikletterer der Region. Die Anstrengungen gipfelten schließlich in den ersten Rotpunkt-Durchsteigungen der Camilotto durch Roland Schlott und Michael Bernhard sowie in der Toprope-Durchsteigung des alten hakentechnischen Direkteinstieges Nutella-Spezial durch Stephan Glowacz, allesamt im Verlauf des Jahres 1985.

Bis zum Ende der achtziger Jahre waren schließlich in allen Gebieten alle Klassiker frei geklettert. Auch die schwereren Probleme, wie z. B. das Himmelspförtchen an der Frankfurter Wand sowie die Herkulesführe am gleichnahmigen Fels im Morgenbachtal, oder das Zirkuszelt an der Oberhäuser Wand in Kirn konnten in den achtzigern geknackt werden. Besonders hartnäckigen Widerstand leistete allein der Wasserweg am Konradsfels, der sich erst 1992 dem wiederholten Ansturm durch Thomas Steioff ergab. Wer hier an der Dachkante nicht den Fischen in der Lahn entgegenstürzen möchte, der sollte den oberen achten Grad schon einigermaßen sicher drauf haben.

Die Zahl der wirklichen Neuerschließungen nahm im Laufe der Zeit allerdings mangels Felsmasse immer weiter ab. Immerhin fanden sich noch im Morgenbachtal, aber auch in den Kirner Dolomiten, am Konradsfels und am Rotenfels noch ein paar Quadratmeter jungfräulichen Felses, auf denen man heute einige oft etwas gesuchte und manchmal definierte Routen nachvollziehen kann.

Einen gravierenden Einschnitt für die Kletterer im Rhein-Main-Gebiet stellten dann die in der zweiten Hälfte der achtziger und in den neunziger Jahren vermehrt ausgesprochenen Kletterverbote dar. Als erster Fels war davon der Rotenfels betroffen, dessen brüchige Prophyrbastionen bereits seit den späten siebziger Jahren das Ziel von mehr oder weniger begründeten Sperrungsabsichten waren. In den achtziger und neunziger Jahren war es dann die Lorsbacher Wand, deren klettersportlicher Wert durch ein nicht nachvollziehbares halbjähriges Kletterverbot erheblich reduziert wurde. Ein Verbot, das durch das unermüdliche Engagement einiger Lorsbach-Liebhaber fast fünfzehn Jahre später gekippt werden konnte. Zuletzt kamen schließlich Diskussionen über die Zukunft des Kletterns im Morgenbachtal und am Konradsfelsen auf, deren Sperrung zum Glück bisher verhindert werden konnte. Derzeit sieht die "sperrrungspolitische" Lage zwar nicht schlecht aus, zu einer Entwarnung besteht allerdings auch weiterhin keinerlei Anlaß.

Am Beginn des neuen Jahrtausends wird sich das Klettern im Rhein-Main-Gebiet wohl nur wenig verändern. Sicher wird sich der Trend zum Indoorklettern mit dem Bau weiterer Kletterhallen - wie überall - fortsetzen. Die Felsen in den Wäldern mit ihren Kletterrouten werden dagegen bleiben wie sie sind: Eine Spielwiese für alle, denen das Erleben von kunstvollen Kletterbewegungen und natürlicher Umgebung in der eigenen kleinen Felsenwelt nach wie vor ein elementares Bedürfnis ist.

Christoph Deinet, 1999



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