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"Ihr wollt es also wirklich angehen?" Andrés Frage entbehrt nicht eines gewissen
skeptischen Untertons, als wir bekanntgeben, wo wir den Vormittag lang zu finden
sein werden. Wir, das sind Michael, mein Seilpartner für diesen Urlaub, Joe, ein
alter Kumpel, mit dem wir uns an diesem Samstag verabredet haben, und ich. Wir stehen
am Schießgrundparkplatz, dem Startpunkt für Touren in die Schrammsteine. Ich will es also wirklich angehen? Auf dem Weg durch den Schießgrund hoch an die
Sandsteintürme hallt die Frage in meinem Kopf nach. Wie oft habe ich mir diese
Frage so oder so ähnlich schon selbst gestellt und doch immer mit einer Verneinung
beantwortet? Keine Form, keine Nerven, schlechtes Wetter... Nach fünfzehn Minuten Wanderung durch die feuchten Gründe und einigen Schritten auf dem Elbleitenweg stehen wir unter der Wand. Der Anblick ist jedesmal aufs Neue beeindruckend. Fast fünfzig Meter hoch und hausmauerartig steil wächst die Westwand des Meurerturms aus dem Sandboden. Neben einem überdachten Querband in zehn Metern Höhe sind zwei parallele Handrisse, die sich ungefähr in Wandmitte im senkrechten Fels verlieren, die einzigen markanten Strukturen. Die Risse vermitteln die zwei klassischen Anstiege: Den linken Riß empor und dann rechtshaltend um die Kante herum zum Gipfel stieg 1949 Harry Rost und eröffnete damit den ersten Weg durch diese Wand: Westwand, VIIIb (UIAA 7). Bis 1970 dauerte es, bis sich schließlich Bernd Arnold des rechten Risses annahm und von dessen Ende, am 1. Ring der Westwand vorbei, schnurgerade durch die Wandmitte zum Gipfel stieg: Lineal, IXa (7+/8-). Doch wie so oft in Sachsen liegt auch hier die Schwierigkeit nicht allein in der
Schwierigkeit. Zwei Ringe auf fünfzig Metern, der Erste davon in rund dreißig Metern
Höhe, so sehen die nüchternen Fakten aus. OK, der Handriß und die Wand bis zum ersten
Ring sind "nur" VIIc, doch lassen sich auch gute Schlingen legen? Wie schwer ist die
Wand nach dem Zweiten Ring wirklich? Wie sieht der Einstieg in die Ausstiegsrinne
aus? Wie ist dort die Lage nach dem tagelangen Regen? Die ersten Meter sehen unangenehm aus: algig grün und feucht und von einem
"saugenden" Handriß keine Spur. Statt dessen gibt es einen breiten aber sehr
seichten Einschnitt. Zum Glück ist der Fels trockener als er aussieht und die
Außenkanten des Einschnittes sind griffig. Mit den Kanten als Seitgriffen und
den Füßen in dem Spalt schiebe ich mich vorsichtig zum Ansatz des Handrisses hoch.
Nach drei Metern versenke ich die rechte Hand im Riß. Nun kann es richtig losgehen.
Mit allen Vieren im Riß steige ich höher. Eine halbwegs gute Knotenschlinge
besänftigt meine Nerven. Langsam gewöhne ich mich wieder an den statischen Rhythmus
des Rißkletterns. Weiter! Vorsichtig richte ich mich auf dem Band auf und schaue über das Dach
auf die nächsten Meter. Die Wand legt sich leicht zurück und der Riß neigt sich
etwas nach rechts. Dafür gibt es Griffe in der Wand, richtige Löcher! Eine echte
Wohltat für die Füße. Nach ein paar Metern fädele ich eine fette, ringartige Sanduhr.
Die Wand nach dem Riß ist dann auch kein Problem mehr. Der Erste Ring kommt in Sicht.
Noch drei Meter, noch zwei, noch einer. "Stand! Aussichern!" Michael macht sich mit einer Bandschlinge am Standring fest und bindet sich aus,
damit mich Joe auf den nächsten Metern bis zum zweiten Ring von unten sichern kann.
Faktor-2-Stürze müssen nun wirklich nicht sein! Die ersten Schalen sind besser als erwartet. Hoffentlich bleibt das so!
Ich schalte alle Gedanken ab. Sehen, Tasten, Bewegen - immer im Fluß bleiben.
Im magnesiafreien schwarzen Sandstein gehört Erfahrung und Glück dazu, schnell die
guten Schalen aus dem Meer der Nieten herauszufischen. Meine Wahrnehmung reduziert
sich auf die umliegenden vier Quadratmeter Fels. Kein Gedanke an den Ring. Die
Kletterei ist eigentlich nicht sonderlich kompliziert - nur die Griffleisten werden
allmählich immer kleiner. Ich verkrieche mich zitternd gleich nach hinten, in das Innere des Kamins - nur
weg von der Kante! Die dunkle Enge vermittelt Geborgenheit. Mit tiefen Atemzügen kann
ich mich wieder beruhigen. Noch ein paar Meter Kaminschrubben, dann stehe ich auf dem Gipfel. Es sind diese Momente des Glücks und der Entspannung, die ich beim Klettern suche und eigentlich nur hier in der Sächsischen Schweiz finde. Es sind diese Kletterrouten, die mir vom totalen psychischen Blackout bis zu traumwandlerischem Klettern in völliger innerer Ausgeglichenheit die stärksten Erlebnisse geben. Überall sieht man Kletterer an den Felstürmen. Sie kommen hier her um Klettern zu erleben. Hier möchte ich sein! Christoph Deinet, 1998 |